Nach mehr als 24stündiger Reise kam ich am 04. Februar 2020 – wenn auch sehr müde – in Battambang an. Nach einer kurzen Erfrischung im Hotel wurde ich von Patrik Roux abgeholt und wir fuhren direkt ins Safe House, wo ich im Atelier sofort die Arbeit mit den Schneiderinnen aufnahm.
Unsere Perle, Schneiderin Dara ist hochschwanger und ihr Baby (es soll ein Junge werden) soll Ende Februar auf die Welt kommen.

Wir hatten eine Mammutaufgabe vor uns, da wir die grosszügige Stoffspende von Esther Enkelmann in Modelle übersetzen mussten. Via Skype hatten wir bereits die Produktion eines Upcycling Mantels definiert, und so konnte ich bereits das erste fertige Modell inspizieren. Spontan beschlossen wir, eine dazu passende Tasche zu fabrizieren. Mein Patenkind Heidi machte dann auch sofort das Fotomodell dafür.

Patrik und Theavy hatten den Kindern im Safe House noch nichts von unserem geplante Ausflug nach Siam Reap erzählt. Also fiel mir die Ehre zu, dies den Kindern nach dem Abendessen im Safe House mitzuteilen. Die Kinder waren total aus dem Häuschen und brachten ihre unbändige Freude über diese sehr willkommene Abwechslung lautstark zum Ausdruck.

Den nächsten Morgen verbrachten Theavy und ich mit der Erledigung von Einkäufen auf den verschiedenen Märkten. Wir fanden zwei hübsche grüne Stoffe und Vichymuster in verschiedensten Farben. Leider ist die Verfügbarkeit von Stoffen nach wie vor ein ungelöstes Problem. Wir bleiben dran!
Wir besuchten auch ein Mädchen aus dem Safe House, welches die Schneiderausbildung erfolgreich abgeschlossen hat und jetzt bei einer Schneiderin am Markt arbeitet sowie eine weitere Absolventin der Schneiderausbildung, die ihr eigenes Geschäft am Markt betreibt. Ihre Schwester sass hochschwanger am Boden und bügelte, während der kleine Sohn der Besitzerin am Boden rumkrabbelte. Mir war nicht wohl beim Zuschauen!

Im Anschluss daran besorgten wir noch ein paar lokale Spezialitäten, wie Wasserkakerlaken und Seidenraupen (!!), Tamarind und in Bananenblättern gegarten Fisch. Von einer Frau mit einer mobilen Garküche kauften wir noch Nudelsuppe to go und dann ging es in einen auf ausländische Produkte spezialisierten Lebensmittelladen, wo wir noch Butter, Mehl, Zucker und Kakaopulver kauften, da wir ja gemeinsam für die Kinder Kuchen und Kekse backen wollten.

Unser nächstes To Do war die Begutachtung von einem Stand, der Zuckerrohrsaft verkauft, da wir das als Inspiration für ein Projekt in Kenia brauchen.

Der Besuch der Chrabcrosang Grundschule stand am nächsten Morgen an. Die fleissigen Assistentinnen Soklida, Saya und Thida hatten bereits mit den grösseren Mädchen den Kleinlaster mit ca. 100 kg Reis, 600 Sojaflaschen, 600 Fischsauce-Flaschen, 100 Wasserflaschen, 200 Seifen, 100 Uniformen, 100 Packungen Nudelsuppe, 100 Taschen und 100 abgepackten Schulmaterialien beladen. Spannend ist, dass die Taschen und die Uniformen vom Atelier des Safe House hergestellt werden, wobei die Uniformen der Kinder auf Mass gemacht werden, da das Atelier über eine Datei mit den Massen aller Kinder verfügt. Der altersschwache und klapprige Kleinlaster brachte uns zur Chrabcrosang Grundschule, ganz in der Nähe des Safe House. In dieser Schule werden 100 Kinder aus ärmsten Verhältnisse betreut. Bei diesen Besuchen, die alle zwei Monate stattfinden, geht es darum, Absenzen der Kinder zu vermeiden und Eltern und Schüler auf den Schulbesuch zu motivieren. Deshalb muss auch jeweils ein Elternteil oder Verwandter anwesend sein. Die Kinder sitzen nach Klassen geordnet in ordentlichen Reihen am Boden und daneben sitzen ihre Verwandten. Theavy kontrolliert die Absenzenlisten und die Schüler mit den meisten Abwesenheitstagen müssen gemeinsam mit ihren Verwandten nach vorne treten und diese Abwesenheit begründen. Ein aufwendiges aber auch sehr effektives Verfahren. Im Abschluss daran werden die Hilfsgüter verteilt. Darüber hinaus gibt es auch noch Schulmaterialien für die gesamte Schule und kleine Geldgeschenke für die Lehrer.

Einen noch besseren Einblick hinter die Kulissen bekam ich am Nachmittag, als wir einige Familien der unterstützten Schüler zuhause besuchten. Eine Mutter hatte einen komplett angeschwollenen und grünen Fuss mit verfärbten Zehen. Die Verletzung war bereits drei Wochen alt und trotz starker Schmerzen kann sie nicht mehr ins Krankenhaus gehen, da es nach zwei Wochen nicht mehr als Notfall gilt und sie sich eine normale Behandlung nicht leisten kann. Die Frau weiss nicht, wie sie die Ausbildung ihrer fünf Töchter finanzieren soll und daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass die älteste Tochter demnächst ihre Ausbildung abbrechen muss, um in Thailand Geld für die Familie zu verdienen.
Alle Häuser sind ausnahmslos in einem schlechten Zustand. Das Haus der Uroma, die sich um ihre Enkelin kümmert, da beide Eltern in Thailand arbeiten, ist in einem besonders schlechten Zustand. Sie macht aber einen durchaus zufriedenen Eindruck. Vor allem das stille Einverständnis zwischen Uroma und Urenkelin zu beobachten war sehr bewegend. Die Hundewelpen, die überall herumkrabbelten trugen auch zum positiven Eindruck bei.

Im Anschluss daran kamen wir in den Vorhof zur Hölle. Mehrere Familien leben auf dem Grundstück einer Müllfirma, die dort ihre grossen Gerätschaften abstellt und auch Müll lagert. Am Eingangstor ist ein Fisch zum Trocknen aufgehängt, und es riecht stark nach Müll.
Patrik hat sich noch etwas weiter in das Innere der Behausungen vorgewagt und erzählt, dass er dort auf einen unglaublichen Geruch gestossen sei, den er nicht zuordnen konnte, aber eindeutig als ungesund – wenn nicht sogar toxisch – identifizieren konnte. Dieser Besuch hat mich sprachlos gemacht und sehr schockiert, denn die Umgebung toppte alles Vorhergehende. Die Kinder aber spielten fröhlich und alle gemeinsam posierten freudig für Fotos. So sollten Menschen nicht leben müssen!

Unser nächstes Projekt hiess dann «Wir backen Kekse und Kuchen». Naiverweise ging ich davon aus, dass das eine einfache Sache sei. Weit gefehlt! Ich hatte nicht mit dem kambodschanischen Ofen gerechnet. Es handelte sich um einen Gasofen älteren Datums, was man ihm durchaus ansah. Natürlich verfügte der Ofen auch über keine Temperaturanzeige und so stellten wir einfach auf hoch. Wir hatten bereits am Vortag die noch fehlenden Zutaten besorgt und so ging ich froh und munter ans Werk. Eine weitere grosse Herausforderung, vor allem beim Umgang mit Zutaten wie Butter und Schokolade ist die Temperatur weit über 30°C. Innerhalb kürzester Zeit schmolz die Butter und auch die Schokolade wurde bald butterweich. Nachdem Theavy und ich die Kekse backfertig gemacht hat kam der Moment der Wahrheit: Normalerweise, d.h. in meinem Schweizer Backofen, haben die Kekse eine Backzeit von 15 Minuten. Nun, in Kambodscha waren es 45 Minuten…. Der darauffolgende Mandelring wurde teilweise ein Opfer des Ofens, da ich ihn auf die unterste Stufe gestellt und doppelt so lange als in der Schweiz drinnen gelassen hatte, aber trotzdem auf das Drehen der Form verzichtet hatte…. Dies führte zu einem teilweise verkohlten Ergebnis. Wir schnitten es dann raus und Patrik behauptete sogar, dass es trotzdem essbar gewesen sei….
Beim zweiten Kuchen wusste ich es dann besser, positionierte den Kuchen in der Mitte des Gasofens und drehte ihn mehrfach. So war auch das Ergebnis ein optisch ansprechenderes und vor allem zur Gänze essbar.

Theavy und Patrik hatten beschlossen, den Wochenendausflug nach Siam Reap auch pädagogisch zu nützen und angekündigt, dass am Freitag-Abend die Verkündigung der Namen erfolgen sollte, die mit nach Siam Reap fahren dürfen. Die ganze Woche schon hatten die Kinder hin- und her gerätselt ob sie nun mitfahren dürfen oder nicht, teilweise sogar schon ihre Sachen gepackt. S. und M., 6 und 8 Jahre alt, hatten sogar täglich bei Tisch ihre Bedenken geäussert, ob wir sie mitnehmen würden, da sie nicht immer ihre Zähne putzen. Theavy hatte eine Liste mit Namen von gefährdeten Kindern erstellt, die sie mitzunehmen bereit war, allerdings brachte sie ihre Unzufriedenheit mit gewissen Verhaltensweisen zum Ausdruck und kündigte an, in der Woche darauf mit den Betroffenen Einzelgespräche führen zu wollen. So fiel letztendlich ein einziger Junge durch den Rost: Leider fällt er immer wieder durch sein aggressives Verhalten auf, und er hat auch schon andere Kinder verletzt. Mir tat der kleine Junge leid und ich versuchte noch ein gutes Wort für ihn einzulegen – vergeblich. Patrik und Theavy bestanden auf der Notwendigkeit ein Exempel an ihm zu statuieren, und zwar vor allem den anderen Kindern gegenüber und nicht, weil sie überzeugt sind, dass dies zu einer Verhaltensänderung beim Jungen führen würde. Angesichts der Tatsache, dass sie immerhin 35 Kinder erziehen, musste ich ihnen schweren Herzens Recht geben.
Die Aufregung am nächsten Morgen hätte nicht grösser sein können: Der Bus stand schon im Safe House bereit. Ein Grossteil der Kinder fuhr mit dem Bus und diejenigen, denen beim Autofahren übel wird, mussten auf der Ladefläche des Pickup – Trucks Platz finden. Kambodschanischer Pragmatismus!

Nach drei Stunden Autofahrt erreichten wir Siam Reap wo es in ein einfaches, aber sauberes Lokal zum Mittagessen ging. Den Nachmittag verbrachten die Kinder am Hotelpool. Abends ging es in ein sogenanntes Apsara – Restaurant, d.h. ein riesengrosses Restaurant für Touristen, wo es Apsara-Vorführungen gibt und ein Buffet. Das Lokal war fast komplett leer, da auch in Siam Reap die grosse Anzahl an chinesischen Reisegruppen fehlt, die aufgrund des Coronavirus keine Reisebewilligung erteilt bekommen. Des einen Leid des anderen Freud… Theavy konnte einen sehr guten Preis aushandeln…vor allem für die kleinsten Kinder. Patrik meinte noch schmunzelnd, dass die keine Ahnung hätten wie viel insbesondere die kleinen Kinder essen könnten. Diese Prophezeiung bewahrheitete sich auch und resultierte darin, dass die kleinsten Mädchen die grössten Rekorde beim Eis-Essen brachen: 10, 7 und 6 Eis am Stiel!!!
Mir war schon bewusst, dass man mit 35 Kindern eine andere Form der Disziplin einhalten muss als mit zwei. Und doch war ich sprachlos angesichts des guten und vorbildlichen Benehmens der Kinder: Nicht nur hielt sich der Geräuschpegel im Hotel schwer in Grenzen, die Kinder bedankten sich nach jedem Essen einzeln und die Grossen achteten vorbildlich auf die Kleinen. So wurde z. B. bei Spaziergängen und Besichtigungen immer ein kleines Kind einem grösseren Kind zugeteilt. Die beiden hielten sich dann an den Händen und es gab nicht den Hauch eines Problems damit.
Am nächsten Morgen ging es zuerst zum Angkor Wat und dann zum Bayon Tempel. Auch hier fiel mir wieder die unglaubliche Disziplin der Kinder auf.


Da ich mehrere Teile der Femmes des Rizières Kollektion dabei hatten, beschlossen wir den Sonntagsausflug zum Ta Phrom Tempel mit einem Fotoshooting für Femmes des Rizières zu kombinieren. Ich hatte die Kleider am Vorabend ausgegeben. Es war so toll zu sehen, wie engagiert und eifrig die Mädchen und jungen Frauen am Styling der Fotos und am Posieren und Fotografieren waren!

Leider war es dann auch schon Zeit Abschied zu nehmen. Es war wunderbar! Wir alle hatten eine wundervolle Zeit zusammen und nicht nur die Kinder haben schöne Erinnerungen – ich auch!

Anmerkung: Wir hatten im Vorfeld darüber diskutiert, ob es sinnvoller sei, diesen Ausflug zu machen oder z. B. ein kleines Töffli für eines der grösseren Mädchen anzuschaffen. Ich hatte mich letztendlich für die Durchführung des Ausflugs entschieden, und zwar deshalb, weil diese Kinder alle eine schreckliche Vorgeschichte haben und wir so positive Kindheitserinnerungen schaffen. Natürlich war meinerseits auch eine Spur Egoismus im Spiel. Auf jeden Fall werden alle noch lange Zeit von den Erinnerungen an diesen Ausflug zehren. Die Ausgaben für den Ausflug werden privat getragen!